Die Tagung „Entschuldung durch Beratung“ am 28. Juni 2019 hatte angesichts einer nach Datenbank-Auswertungen anzunehmenden Zahl von rund 7 Millionen in Deutschland in Überschuldung lebenden Menschen nach den Entstehungsumständen von Insolvenz und nach den Wirkungsmöglichkeiten einer Beratung des Schuldners gefragt. Aus den damals ausgetauschten Beobachtungen wurden in der Tagung vom 28. September 2022 die Aspekte der Ursachenermittlung und der Wiedergewinnung wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit vertieft. Die Tagung wendete sich an Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Schuldner- und Insolvenzberatung sowie aus Rechtspflege, Wirtschaft und Verbänden.
Hier finden Sie den Flyer mit Informationen zum Fachtag "Ursachen von Verschuldung mit Beratung überwinden".
Bericht zur Tagung “Ursachen von Verschuldung mit Beratung überwinden”
Am 28. September 2022 trafen sich zum zweiten Mal Vertreter des insolvenzrechtlichen Beratungswesens und der Wissenschaft im Justizpalast München. Wie schon im Jahr 2019, sollten auch diesmal aktuelle Themen und Fragestellungen des Insolvenzrechts diskutiert werden.
A. Einleitung
Nach begrüßenden Worten von Ministerialrat Dr. Hendrik Schultzky für das gastgebende Staatsministerium der Justiz folgte eine kurze Einleitung zur Tagung durch Prof. Dr. Christoph Becker (Universität Augsburg). Im Zentrum der Veranstaltung stehen, so Becker, die Fragen “Wie muss Beratung aussehen?” und “Kann Beratung Überschuldung verhindern?”.
B. Analyse von Daten zur Überschuldung natürlicher Personen (Verbraucher und persönlich haftende Unternehmer)
Dr. Rainer Bovelet (Synergie 2 Kommunikationsforschung und -beratung), Autor des Schuldneratlas, veranschaulichte anhand eines Zeitstrahls die Korrelation weltpolitischer Ereignisse wie der Dotcom-Krise, der Weltfinanzkrise der Jahre 2007/2008 und zuletzt der Covid-19-Pandemie. In allen Fällen sank die Überschuldungsquote – berechnet aus der Anzahl der Fälle von Überschuldungen in Relation zur Bevölkerung – zunächst deutlich ab, während sie in den Jahren davor stetig zugenommen hatte. Dieses von Bovelet im Zuge der Pandemie “Corona-Paradoxon” genannte Phänomen gründet darauf, dass sich Überschuldungsfälle meist aus unangemessenem Konsumverhalten der Verbraucher ergeben. Aufgrund flächendeckender Lockdowns fielen während der Pandemie viele Konsummöglichkeiten weg. Trotz eines weltweiten Booms im Versandhandel sank die Konsumwilligkeit insgesamt. Da in den Jahren vor der Pandemie die Überschuldungsquote stetig gestiegen sei, sei mit dem Wegfall der Maßnahmen auch zu erwarten, dass das Niveau des Jahres 2019 nicht nur wieder erreicht, sondern noch übertroffen wird. An dieser Stelle werden sich der statistischen Wahrscheinlichkeit nach die ebenfalls pandemiebedingten Nachteile auf das Einkommen bemerkbar machen: Gewerbebetriebe konnten lange Zeit nicht öffnen, Investitionen konnten sich zum Teil nicht auszahlen, während gleichzeitig Raten für aufgenommene Kredite fällig wurden. Als Ausblick für die kommenden Jahre ist damit auch mit einer steigenden Zahl an Insolvenzverfahren zu rechnen.
C. Neueinrichtung wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit des Schuldners in einem enger begrenzten Begleitzeitraum (Wohlverhaltensperiode)
Prof. Dr. Peter Kreutz (Universität Augsburg) sprach zunächst über die Zielsetzung und historische Entwicklung der Insolvenzordnung. Besonders betont wurde die Dauer der Wohlverhaltensperiode des § 287 Abs. 1, 2 InsO: Diese war im Jahr 1999 ursprünglich auf sieben Jahre festgesetzt und bereits 2001 auf sechs Jahre verkürzt worden. Hierzu verwies Kreutz auf die der Insolvenzordnung zugrundeliegende Gesetzesbegründung, in der von einem “überschaubaren Zeitraum” als Grundlage für die Wohlverhaltensperiode gesprochen wird. Da jedoch im Kontext weltumspannender Ereignisse wie Finanzkrisen und Pandemien allein schon innerhalb von zwei Jahren eine völlige Umstürzung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Schuldners möglich ist, kann eine Planung über einen Zeitraum von sechs Jahren kaum erfolgen. Die Neufassung des § 300 InsO im Jahr 2014 ermöglichte unter zusätzlichen Voraussetzungen eine Verkürzung auf drei Jahre. Im Jahr 2020 wurden diese Voraussetzungen zugunsten einer voraussetzungslosen Verkürzung der Wohlverhaltensperiode auf drei Jahre aus dem Gesetz gestrichen. Die Gesetzesbegründung der neuesten Änderung besagt schlicht, dass auf “die Erfüllung von Mindestbefriedigungsanforderungen […] verzichtet [wird]”.
Die Inflexibilität im Angesicht weitreichender Ereignisse könnte, so der Vortragende, mit einer variablen Anpassungsmöglichkeit ähnlich dem Modell der Störung der Geschäftsgrundlage abgemildert oder sogar behoben werden. Zudem solle über die Möglichkeit nachgedacht werden, eine Restschudbefreiung auch außerhalb eines förmlichen Insolvenzverfahrens erlangen zu können. Bisher gibt es hierfür keine rechtliche Grundlage, es besteht lediglich die Möglichkeit zur privatautonomen Verständigung zwischen Schuldner und Gläubiger(n). Kreutz sieht auch Potenzial in der Rolle des Treuhänders, an den während der Wohlverhaltensperiode die pfändbaren Forderungen des Insolvenzschuldners abzutreten sind. Statt seiner bisher passiven Stellung wäre es möglich, dem Treuhänder zudem eine Beratungsfunktion zukommen zu lassen. Schließlich sei gerade die frühzeitige Beratung die wohl beste Möglichkeit, das spätere Insolvenzverfahren zu vermeiden oder während des Verfahrens die bestmögliche Beendigung für Schuldner und Gläubiger zu erreichen. Gerade die frühzeitige Inanspruchnahme von Beratung erfolge jedoch kaum – es steht eine zu große Angst vor sozialer Ächtung im Raum, sodass Schuldner nicht dann, wenn sie noch Mittel haben, sondern erst, wenn es keinen Ausweg mehr gibt, eine Beratungsstelle aufsuchen. Entsprechend schlechte Ausgangsvoraussetzungen bestehen für das Verfahren.
D. Überschuldung mit Beratung überwinden
Regina Hinterleuthner (Mitglied des Fachausschusses Schuldner- und Insolvenzberatung der Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern, Caritasverband für die Diözese Augsburg e.V.) stellte die Perspektive der Beratungspraxis dar. Oft geschieht es, dass die Schuldenbereinigung an übereifrigen Gläubigern scheitert, die statt einer Ratenzahlung oder anderen milderen Mitteln auf die zeitnahe Befriedigung pochen. In solchen Fällen wird der Schuldner stärker belastet, was einerseits das Verfahren, aber andererseits auch die übrigen Gläubiger und die schließlich angestrebte wirtschaftliche Rehabilitation des Schuldners gefährdet. Es besteht für die öffentlichen Gläubiger ein Interessenkonflikt, schließlich sind ihre Vertreter kraft Amtes dazu verpflichtet, Forderungen auch einzuziehen. Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Gläubigern erlangt deshalb enorme Bedeutung, kann jedoch meist nur unter Mitwirkung einer Beratungsstelle effektiv durchgeführt werden, sodass sich erneut das Problem der (zu) späten Inanspruchnahme von Beratung stellt. Neben dem Stigma von Überschuldung ergeben sich auch negative Auswirkungen auf die Psyche des Schuldners, was eine wirtschaftliche Tätigkeit zur Schuldenbegleichung weiter beeinträchtigt. Hieraus ergibt sich eine Spirale, die zu immer höherer Verschuldung und damit schlechteren Voraussetzungen für Schuldenbereinigung und das Insolvenzverfahren führt. Zentrales Problem ist nach Ansicht Hinterleuthners die fehlende Kenntnis über Beratungsmöglichkeiten und sonstige soziale Unterstützungen. Dabei stelle die Beratung aufgrund der zugrundeliegenden Prinzipien von Vertraulichkeit, Freiwilligkeit, Eigenverantwortlichkeit, Ganzheitlichkeit, Ergebnisoffenheit, der Wiedergewinnung wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit und der Hilfe zur Selbsthilfe für den Schuldner den besten Weg aus der Überschuldung dar. Es sei von großer Bedeutung, dass der Schuldner in allen Phasen beteiligt, aber in Fällen mangelnder fachlicher Kompetenz auch nicht überfordert wird. Dies soll auch in quantitativer Hinsicht gelten.
E. Diskussion
In einer anschließenden Diskussion meldeten sich aus dem Publikum Vertreterinnen der Beratungspraxis zu Wort. Der allgemeine Konsens lautete dabei, dass gerade öffentliche Gläubiger in der Praxis zu Hemmnissen für das weitere Entschuldungsverfahren führen. Dieses Problem könne aber durch verwaltungsinterne Anweisungen zum Vorgehen behoben werden. Dieser Lösungsansatz stieß auf große Zustimmung.